Wiener Zeitung - Freitritt: The Bicycle is Underused

Recently the bicycle-blog section "Freitritt" of the Austrian Newspaper "Wiener Zeitung" featured  a piece on STC's Florian Lorenz. It talks about STC's work on documenting Beijing's diverse cycling cultures and STC's hypothesis in (bi)cycle urbanism that Beijing shows on a global scale the still unused potentials of cycles for a well-functioning sustainable city. In this sense, the bicycle is underused in cities today, even in European lighthouse bicycling cities such as Amsterdam or Copenhagen. The blog also features a section of images from various places showing different uses of (cargo) cycles.

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Please find the post online (German) and a re-post of the article written by Matthias Bernold below (German):

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In China wie in Europa: Das Fahrrad ist unternutzt

Von Matthias Bernold

Florian Lorenz, ökologischer Designer und Urbanitätsforscher, will Radfahren in China beliebter machen. Ein schwieriges Unterfangen. Denn die chinesische Gesellschaft entwickelt sich in die entgegen gesetzte Richtung. Schade: Denn nirgendwo wird das Rad kreativer genutzt als im Reich der Mitte.

Bis Ende der 1980er-Jahren war Peking so etwas wie ein Paradies für Radfahrer. In dichten Trauben durchzogen sie die Boulevards der chinesischen Metropole und prägten das Stadtbild. 1986 lag der Fahrradanteil im Straßenverkehr bei 63 Prozent. Zu einem Zeitpunkt als in Europa gerade einmal die Niederlande und Dänemark das Fahrradfahren für sich entdeckt hatten. Mit dem Wohlstand kam jedoch auch in China die Motorisierung. Der Anteil der mit dem Fahrrad zurückgelegten Strecken sank bis er heute in Peking bei geschätzten 16 bis 17 Prozent zu liegen kam. (Und damit immer noch rund drei mal so hoch wie in Wien.) Erst kürzlich sprach FAZ-Kolumnist Christian Geinitz  von "Pekings letzten Radfahrern".

"In China ist das Rad inzwischen als Fahrzeug der armen Leute stigmatisiert und gegenüber dem motorisierten Verkehr zweitrangig", erklärt Florian Lorenz von der chinesischen Radler-NGO Smarter Than Car. Dabei sei die Verwendung des Fahrrades in China in vieler Hinsicht beispielhaft und könnte Europa als Inspirationsquelle dienen. "Meine These ist: Das Fahrrad ist in allen europäischen Städten noch unternutzt. Das Beispiel Peking zeigt, dass es möglich ist 63 Prozent aller Trips mit dem Rad zu erledigen, ein Radfahranteil, der weit höher liegt als in den europäischen Fahrrad-Musterstädten Kopenhagen oder Amsterdam ."

Botschafter in Sachen Fahrrad

Lorenz, studierter Ökologe und Landschaftsarchitekt, begreift sich als eine Art Botschafter in Sachen Fahrrad. Er dokumentiert mit Foto und Video die Nutzungsmöglichkeiten des Fahrrades (hier ein Link zu einigen seiner Fotos) und hält weltweit Vorträge in Kommunen und an Universitäten: "Die Mission von Smarter Than Car ist es, zu zeigen, dass das Rad für viele Nutzungen praktischer, billiger und besser ist als das Auto."

Wie vielfältig die Anwendungsmöglichkeiten sind, zeigt ein Blick auf den chinesischen Alltag: Messerschleifer, Schuster, Obsthändler, Zeitungs- oder Süßigkeiten-Verkäufer – kaum ein Gewerbe, dass sich nicht auch per Lastenrad erledigen ließe.  "In China fahren ganze Familien. Es kommt vor, dass der fittere Teil der Familie tritt, während die Großeltern nur mitfahren."

Während ganz Europa nach Kopenhagen blicke, eigne sich die chinesische Kultur mindestens ebenso gut als Inspirationsquelle, ist Lorenz überzeugt. "Was ich lustig finde: In Europa sind Lasten-Trikes für den unterschiedlichsten Einsatz echt der letzte Schrei, und die Hippsters fahren damit. In China ist es den Leuten richtig peinlich, mit so etwas unterwegs zu sein."

Auf Chinas Straßen habe sich im Schnellgang jener Wandel vollzogen, der in Europa in den 1950er-Jahren einsetzte: Straßen, die einmal ausgesehen hatten wie Spielstraßen, mit Kindern, Spaziergängern und Pferdewagen wurden für den Autoverkehr und damit für Geschwindigkeit optimiert. In Peking explodierte die Zahl der Autos auf heute über vier Millionen. Konfrontiert mit dem täglichen Verkehrskollaps und seinen Begleiterscheinungen sei die Stadt dazu übergegangen, Kfz-Zulassungen nur mehr auf Antrag zu gewähren. Private Kfz, Taxis und öffentliche Verkehrsmittel machen dem Fahrrad Konkurrenz.

Hippster-Chic und Cargo-Trikes aus Notwendigkeit

Prinzipiell sei Peking heute immer noch ideal für den Radverkehr, sagt Lorenz. Seien doch an die Stelle der Stadtmauern in den 1950er-Jahren breite Boulevards mit großzügigen Verkehrsstreifen für Nicht-Motorisierte getreten. Allerdings würden diese Streifen heutzutage von Autos auch zum Abbiegen und Parken genutzt, "so dass es vorkommen kann, dass man dort von Kleinlastern gejagt wird, während die Stadt im Stau steckt".

Als Gegenbewegung zur fortschreitenden Motorisierung entstand auch in Chinas Hauptstadt eine jugendliche Fahrradkultur samt Hippster-Chic, Sternfahrten zu Kunst-Events und Alleycat-Rennen, berichtet Lorenz. (Allerdings keine Critical Mass http://www.criticalmass.at/.. "Wie die chinesischen Behörden reagieren würden, wenn man eine Critical Mass organisieren würde, weiß ich nicht.") Pro-Radfahrer Lobbys gründeten sich, denen gegenüber sich die chinesischen Behörden durchaus aufgeschlossen zeigten. Vielleicht - vermutet Lorenz - weil das Umweltthema in China immer wichtiger werde, "genießen "grüne" NGOS im Vergleich zu etwa Menschenrechtsgruppen relativ viel Meinungsfreiheit". Nachsatz: "zumindest solange sie eine gewissen kritische Größe nicht überschreiten".

In Wien fast über den Haufen gefahren

Seine Liebe für das Fahrradfahren entdeckte Lorenz, 1981 in Innsbrucker geboren, übrigens beim Studium in Kopenhagen. "Da habe ich erst gemerkt, wie viel Potential das Radfahren hat und wie ideal die Situation für Radfahrer sein kann." Zurück in Wien sei er im Straßenverkehr sofort in Bedrängnis geraten, weil er die Rücksichtnahme der dänischen Autofahrer gewöhnt war. Lorenz: "Ich wurde dreimal fast über den Haufen gefahren". In Wien, sagt er mir im Interview, gelte eben immer noch ein anderes, ungeschriebenes Recht: Das des Stärkeren. Und: "Es gibt diesen merkwürdigen Kampf um Territorien. Radelfahrer sagen: Ich hab das alleinige Recht auf den Radweg und Fußgänger sagen: nur ich darf auf den Gehsteig, und Autofahrer sagen: wenn ich grün habe, dann fahre ich auch und brauch daher nicht zu schauen. Statt auf Andere Rücksicht zu nehmen, wird auf irgendwelche Rechte gepocht."

Der kulturelle Austausch in Sachen Fahrrad.

Zeigen, dass es auch anders geht, ist ein Anspruch von Smarter Than Cars. "Radfahren ist billig, demokratisch , gesund, es erzeugt eine lebendige Nachbarschaft. Wir sagen: Wir wollen einen (denk)Rahmen für Leute entwickeln, so dass sie anders zu denken beginnen." Die steigende Bedeutung des Fahrrades in vielen europäischen Städten gehe einher mit einer Re-Urbanisierung die für Smarter Than Car unter den Begriff "Fahrrad-Urbanismus" fällt. Statt in der Peripherie lebten die Leute heute wieder lieber in den inneren Bezirken. Dazu braucht es aber lebenswerte Städte mit weniger Lärm, Stau und Abgasen. "So ähnlich wie beim Gender-Mainstreaming brauchen wir auch beim Radfahren ein Umdenken, ein (bi)cycle mainstreaming für Individuen und Institutionen", sagt Lorenz: "Fahrradfahrer müssen gegenüber den Autolenkern gleichberechtigt werden: Das ist in westlichen Städten genauso gut möglich wie in östlichen."

URL: http://www.wienerzeitung.at/meinungen/blogs/freitritt/477746_In-China-wie-in-Europa-Das-Fahrrad-ist-unternutzt.html
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